Dietrich-A.-Loeber-Nachwuchstagung 2019

Dietrich-A.-Loeber-Nachwuchstagung 2019

Organisatoren
Deutsch-Baltische Gesellschaft e. V., Darmstadt ; Deutsch-Baltisches Jugendwerk, Lüneburg
Ort
Darmstadt
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.05.2019 - 18.05.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Pabst, Wissenschaftlicher Leiter des Deutsch-Baltischen Jugendwerks, Lüneburg

Nach längerer Pause hatten die Deutsch-Baltische Gesellschaft (DBGes) und das Deutsch-Baltische Jugendwerk (DBJW) im Winter 2018/19 zum vierten Mal den Dietrich-A.-Loeber-Preis ausgeschrieben. Ziel des Preises ist die Förderung von Studierenden und Doktoranden, die sich mit einem politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Aspekt des Baltikums in Geschichte und Gegenwart befassen. Die Preisgelder wurden von der Sparkasse Darmstadt und der ENTEGA Stiftung zur Verfügung gestellt; die ausgezeichneten Beiträge werden im Deutsch-Baltischen Jahrbuch (1.-3. Platz) bzw. in den Hochschulschriften zum Baltikum der Carl-Schirren-Gesellschaft veröffentlicht. Die Preisträger waren eingeladen, ihre Arbeiten bei der Dietrich-A.-Loeber-Nachwuchstagung der interessierten Öffentlichkeit vorzustellen.

Der Bundesvorsitzende der Deutsch-Baltischen Gesellschaft, Christian von Boetticher, eröffnete die Tagung, die von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien gefördert wurde. Er erinnerte an den Namenspatron von Preis und Tagung, den 2004 verstorbenen deutschbaltischen Rechtswissenschaftler Dietrich André Loeber. Dieser hatte bereits 1988 und 1989 in Estland und Lettland Vorträge zum Hitler-Stalin-Pakt gehalten, den die sowjetische Führung damals noch leugnete. Zum ersten lettischen Juristenkongress nach der Perestroika brachte Loeber 1990 eine im Selbstverlag gedruckte Version des lettländischen Zivilgesetzbuches von 1937 mit. Nach 1991 hielt der gebürtige Rigenser regelmäßig Vorlesungen an baltischen Universitäten. Seine Witwe Christa, die bei der Tagung anwesend war, versicherte den Anwesenden, ihr Mann hätte sich gefreut, dass so viele und stabile Brücken ins Baltikum gebaut werden. Schließlich gelte es, das gemeinsame Haus Europa gut aufzustellen.

Am Beispiel der Lebensstationen des Sängers und Komponisten Johann Valentin Meder (1649-1719) untersuchte die Historikerin FREDERIEKE MARIA SCHNACK (Kiel) die persönliche Mobilität und den damit verbundenen Kulturtransfer im Ostseeraum in der frühen Neuzeit. Der gebürtige Thüringer Meder stammte aus einer Pfarrersfamilie. In Wasungen hatte sein Vater die Stelle des Kantors inne, vier Brüder widmeten sich ebenfalls der Kirchenmusik. Meder besuchte die Universität Leipzig, brach das Studium jedoch 1670 ab und begann ein unstetes Wanderleben. 1672 versuchte er sich als Sänger in Gotha am Hof von Herzog Ernst dem Frommen, ein Jahr später finden wir ihn in Bremen und Hamburg. 1674 arbeitete er als Musiklehrer für die höheren gesellschaftlichen Schichten in Kopenhagen, wo sein Bruder als Organist wirkte. Noch im selben Jahr führte Meders Weg ins Baltikum. Im damals schwedischen Reval erhielt er am Gymnasium eine Stelle als Kantor. 1680 wurde seine Oper Die beständige Argenia aufgeführt. Sie gilt als älteste deutsche Oper, die in Text und Musik vollständig erhalten ist. Vom Anlass her reiht sie sich in die seit 1600 in Italien belegten Hochzeitsopern ein. Die Aufführung war allerdings ein Misserfolg. Vielleicht schon 1680, auf jeden Fall aber 1685 weilte er in Riga. Wegen finanzieller Unstimmigkeiten kam es zum Streit mit dem Rat der Stadt. Von 1687 bis 1696 hatte Meder den Posten des städtischen Kapellmeisters in Danzig inne. Dort komponierte er unter anderem zwei Opern, was allerdings zu Auseinandersetzungen mit dem Danziger Stadtrat führte. Zwei Jahre lang hielt sich der Thüringer vermutlich in Königsberg auf, dann bekam er wieder eine feste Stellung als Domorganist zu Riga. Dort blieb er bis zu seinem Ableben 1719. Er komponierte für kirchliche Feiern, aber auch Ballettmusik und Opern sowie ein Werk zum Sieg des Schwedenkönigs Karl XII. über die Russen. Vielleicht deshalb fiel ab und zu die Gehaltszahlung aus, als Reval 1710 russisch wurde. Seine engen Beziehungen zu Kollegen bezeugt Meders Stammbuch, in dem auch der Lübecker Organist und Komponist Dietrich Buxtehude sich verewigte. An Meders Wirken lasse sich die Verbreitung und Bedeutung der italienischen Musik für das Baltikum an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert zeigen, so Schnack. Allerdings sei Meder als Opernkomponist oft an den unzulänglichen Mitteln der Theater gescheitert.

Die Slavistin und Kulturwissenschaftlerin LENA-MARIE FRANKE (Passau) hat sich bei ihren Aufenthalten in Lettland auch mit deutschbaltischer Literatur befasst. In ihrer Arbeit untersucht sie die Motive „Grab“ und „Friedhof“ in der deutschbaltischen Literatur des 20. Jahrhunderts auf ihre Verwendung und Bedeutung. Dabei greift sie mit Werner Bergengruens Erzählungssammlung Der Tod von Reval, Siegfried von Vegesacks Romantrilogie Die Baltische Tragödie sowie verschiedenen Gedichten Gertrud von den Brinckens auf drei sehr unterschiedliche Textgattungen zu. Sie zeigte auf, dass Tod und Leben in allen Texten zugleich räumlich voneinander getrennt, zeitlich aber nebeneinander existent sind. Auch wenn alle drei Autoren durch die Thematik Friedhof und Grab den „in sich geschlossenen Kommunikationsraum einer glücklichen Kindheit in der baltischen Heimat stören und aufbrechen“, lassen sich unterschiedliche Perspektiven aufzeigen. Während bei von den Brincken der Friedhof als rückwärtsgewandter Erinnerungsort einer abgeschlossenen Vergangenheit dient, weist er sowohl bei Vegesack als auch bei Bergengruen durchaus in die Zukunft. Die Grabstätte auf dem Hügel spiegelt in der Baltischen Tragödie das Leben der Familie wider und kündigt bevorstehende Veränderungen an. Bei den Erzählungen Bergengruens steht der Friedhof gewöhnlich am Ende einer Erzählung, wo mit dem Begräbnis der Hauptperson „der Todeslauf der Charaktere zu Ende geführt“ wird. Durch das Begräbnis finden die Toten ihre Ruhe und ermöglichen so den Hinterbliebenen wie auch den LeserInnen, wieder nach vorn zu blicken.

Die Verehrung von Johan Laidoner, dem estnischen Oberbefehlshaber während der Befreiungskriege 1918-1920, war Gegenstand der kritischen Analyse der Historikerin LAURA VIKTORIA POTZUWEIT (Kiel). Laidoner wird bis heute primär als der Sieger über die Baltische Landeswehr in der Schlacht von Wenden 1919, die die Unabhängigkeit Lettlands und Estlands absicherte, erinnert. Noch heute ist der 23. Juni in Estland Feiertag. Laidoner, der sich in den Friedenszeiten der ersten Republik Estland als Parlamentarier und Diplomat Verdienste erwarb, verhinderte als Oberbefehlshaber den kommunistischen Putsch von 1924. Allerdings unterstützte er zehn Jahre später den unblutigen, erfolgreichen Staatsstreich des Konstantin Päts. Nach der Besetzung Estlands 1940 durch die Sowjetunion wurde Laidoner verhaftet und nach Russland deportiert. 1953 starb er in einem Gefängnis. Die Schlacht von Wenden sei für das estnische Selbstverständnis auch heute noch bedeutend, so Potzuweit. Die Erinnerung an den Sieger sei aber zwiespältig, da er seine Popularität von Päts als Mittel zum Zweck der Errichtung einer Präsidialdiktatur habe missbrauchen lassen. Der General selbst hatte vor seinem Tod geschrieben, er scheue das Urteil der Geschichte nicht. Nachdem in der Sowjetzeit alle Denkmäler, die an Laidoner und seinen Sieg erinnern, zerstört worden waren, gebe es heute wieder Münzen und Briefmarken mit seinem Abbild und seit 2014 auch ein Denkmal für seine Frau. In der Erinnerung an Laidoner falle seine politische Tätigkeit auch heute letztlich weitgehend unter den Tisch. Gefühle seien hinsichtlich seiner Person offenbar stärker als historische Fakten.

Der Beitrag des Sprach- und Kommunikationswissenschaftlers MARCEL KNORN (Greifswald) befasste sich mit dem Estland der Gegenwart. Nachdem eine Untersuchung 2013/2014 gezeigt hatte, dass zwei Drittel der rund 330.000 russischsprachigen Einwohner Estlands sich vorwiegend über das russische (Staats-)Fernsehen informierten, wurde im Jahr 2015 mit ETV+ ein dritter öffentlich-rechtlicher Fernsehsender geschaffen, der im Gegensatz zu den bisherigen estnischen Programmen ausschließlich auf Russisch sendet. Dieser soll – insbesondere nach der Annexion der Krim durch Russland – der russischsprachigen Bevölkerung die Möglichkeit bieten, sich in ihrer Muttersprache umfangreicher und objektiver insbesondere über das politische und gesellschaftliche Geschehen in Estland zu informieren. Knorn strich in seiner Analyse des Senderprogramms heraus, dass etwa die Hälfte aller Sendungen im Untersuchungszeitraum von ETV+ selbst produziert worden war. Etwas mehr als die Hälfte der Sendezeit stand für Unterhaltungssendungen zur Verfügung, 37 Prozent für Informationssendungen, während 18 Prozent der expliziten Meinungsbildung dienten.

Als Festvortrag stellte der Träger des ersten Preises, BASTIAN BROMBACH (Potsdam), seine Arbeit zur Mobilität und sozialen Herkunft livländischer Studenten im 16. Jahrhundert vor. Gerade im Jubiläumsjahr der Reformation 2017 sei immer wieder darauf hingewiesen worden, dass Luthers Ansichten schon frühzeitig von den Deutschen in Livland übernommen worden seien und Wittenberg dabei eine wichtige Rolle gespielt habe. Auf einer Tafel vor der Petrikirche in Riga wird verkündet, dass 1522 die Reformation hier eingeführt und 1525 die Glaubensfreiheit verkündet worden sei. Die Frage sei, so Brombach, ob sich dieser Wandel auch belegen lasse, wenn man die Situation der Studenten beleuchte. Er legte anhand von Matrikeln dar, dass viele deutschstämmige Studenten aus den heutigen baltischen Ländern vor allem in Rostock und Wittenberg studierten, da es im Baltikum noch keine Universitäten gab. Die Bevorzugung dieser beiden Hochschulen könnte in der Tat der frühzeitigen Verbreitung der Reformation in Livland und Estland geschuldet sein. Man müsse allerdings feststellen, dass die Zahl der Studenten aus Livland nach der Reformation zunächst gesunken sei, sich aber später wieder stabilisiert habe. Die meisten Studiosi kamen aus Riga beziehungsweise Reval. In Rostock waren etwa dreimal so viele eingeschrieben wie in Wittenberg. Die meisten Livländer hätten ihr Studium dort auch beendet und seien nicht in andere Städte gewechselt. Etwa zehn Prozent der Studenten waren adelig, anderthalb Prozent wurden zu den „pauperes“, den Armen gerechnet. Das Studium in der Ferne bedeutete auch ein hohes finanzielles Risiko. Schließlich war man jahrelang von zu Hause weg, benötigte aber Geld aus der Heimat. Den StudentInnen, die heutzutage über ein Auslandsstudium nachdenken, sollte bewusst sein, dass Mobilität und geistiger Austausch über Ländergrenzen hinweg schon im ausgehenden Mittelalter selbstverständlich waren, mahnte Brombach. Ausdrücklich bezeichnete er den Loeber-Preis als wichtigen Beweis dafür, dass die Baltikumswissenschaft kein Orchideenfach sei, auch wenn, wer sich wissenschaftlich mit dem Baltikum befasse, sich manchmal wie ein Einzelkämpfer vorkomme.

Konferenzübersicht:

Dr. Christian von Boetticher (Bundesvorsitzender der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e. V.): Eröffnung

Frederieke Maria Schnack (Kiel): Kulturtransfer und musikalische Netzwerke im Baltikum. Lebensstationen und Werk des Komponisten Johann Valentin Meder (1649-1719)

Lena-Marie Franke (Passau): Die Motive „Grab“ und „Friedhof“ in der deutschbaltischen Literatur des 20. Jahrhunderts am Beispiel von Werner Bergengruens Der Tod von Reval, Siegfried von Vegesacks Baltischer Tragödie sowie Gedichten von Gertrud von den Brincken

Laura Viktoria Potzuweit (Kiel): Im Dienst des „nationalen Ganzen“. Die Erinnerungssymbole Schlacht von Wenden und Johan Laidoner als identitätsstiftende Konstruktionen im Selbstverständnis Estlands

Marcel Knorn (Greifswald): ETV+ als Mittel der estnischen Sprach(en)politik. Ein programmanalytischer Ansatz

Festvortrag
Bastian Brombach (Potsdam): Peregrinatio academica livoniensis. Zur Mobilität und sozialen Herkunft livländischer Studenten 1500-1560